Die Kinder des Kindergartens in Erlangen-Bruck am Sandberg, wahrscheinlich 1952. Ich bin der Vierte von rechts in der zweiten Reihe von unten (wie üblich mit offenem Mund)
Die Kinder des Kindergartens in Erlangen-Bruck am Sandberg, wahrscheinlich 1952. Ich bin der Vierte von rechts in der zweiten Reihe von unten (wie üblich mit offenem Mund)

Der Negerjunge und das Puppenmädchen aus dem Orient

Im Alter von um die drei Jahre bin ich doch noch in den Kindergarten gekommen. In den Ganztagshort am Wohnort meiner Eltern in Bruck. Vorher war ich dort bei der Tagesmutter untergebracht gewesen, die mich häufig allein ließ und in der Wohnung einsperrte. Einer Nachbarin dieser Frau war aufgefallen, dass ich nie mehr zum Spielen mit ihrer gleichaltrigen Tochter herauskam. Daraufhin stellte sie fest, dass ich zwar in der Wohnung war - die Frau aber regelmäßig zu ihrem Putzdienst wegging. Die Nachbarin informierte meine Mutter, als die mich eines Abends abholen kam. Dann hatte mein Gefangenendasein sofort ein Ende...

An den Anfang der Kindergartenzeit habe ich gar keine Erinnerungen mehr. Meine Mutter berichtetet mir später, dass ich spontan auf alle kleinen Mädchen zugelaufen sei und sie heftig umarmt habe. Bei vielen lösten diese Zuneigungsbeweise aber gegenteilige Reaktionen aus: Schreien und Heulen - wahrscheinlich aus Angst erdrückt zu werden. Ich war zu der Zeit ein kräftiger Junge, der das zarte Geschlecht einfach nur besonders lieb begrüßen wollte. Diese Missverständnisse scheinen sich aber bald in Wohlgefallen aufgelöst zu haben.

Erinnerungsfilmchen aus dieser Altersphase:

Ich sitze ganz tief unten in einem Schlitten, der zischend durch Schnee gezogen wird, vor mir knirschen Schritte, die Luft ist schneidend kalt, so dass es beim Einatmen ein wenig weh tut. Mein Blick geht nach oben zur hoch aufragenden dunklen Silhouette des Kirchturms. Mit seinen vier kleinen Eck-Scharwachtürmchen erscheint er wie eine Mischung aus spitzem Zauberhut und Krone. Auf allen Dächern liegt hohe Schneewatte. Ich sehe Sternengefunkel, bin völlig entspannt und lege mein Leben ganz in die Obhut der beiden, die da vor mir gehen...

Ich liege in einem schummrigen schmalen Zimmer; manchmal kommt ein Mann mit einer großen Tasche, der mich aufrichtet und einen kalten Gegenstand an meine Brust und den Rücken drückt. Öfter noch steht eine ältere Frau mit liebevoll-gütigem Gesichtsausdruck und einer kleinen weißen Haube an meinem Bett, sie macht irgendetwas mit mir, gibt mir auch zu trinken. Seltsamerweise entstehen in Verbindung mit dieser Krankheit keinerlei Gefühls- oder Schmerzerinnerungen....

 

Umso bewusster ist mir die Kindergartenzeit in etwas fortgeschrittenerem Alter. Da bekamen wir einen Mischlingsjungen als Neuzugang: "Walter, den Neger!"

Für viele Menschen am Ort bedeutete der Anblick des quirligen dunkelhäutigen Jungen mit dem schwarzen Kraushaar damals eine Sensation und Provokation zugleich. Schließlich war Walter ja der lebende Beweis für die Sünde seiner Mutter. Im Volksmund wurde eine Frau wie sie "Ami-Pritschla" genannt. Gemeint war damit eine jüngere Frau mit lockerem, amoralischen Lebenswandel, die sich sogar mit farbigen US-Besatzungssoldaten einließ. Dunkelhäutige wurden zu jener Zeit unisono "Neger" genannt. Die Bevölkerung hatte bis zum Eintreffen der US Army im April 1945 aber niemals schwarzhäutige Menschen gesehen.

Bei uns Kindern gab es überhaupt keine Vorurteile oder Berührungsängste gegenüber Walter. Er war sogar ein besonders interessanter Spielkamerad. Nach meinem Empfinden kam ich gut mit ihm aus. Allerdings fiel mir auf, dass er immer im Vordergrund und im Mittelpunkt sein wollte; ständig neue Aktivitäten anzettelte und dabei regelmäßig ein größere Zahl von Anhängern um sich scharte.  

Warum er eines Tages einen Teil der Jungs gegen mich aufhetzte, wird mir ein ewiges Rätsel bleiben. Als ich abends nach Hause gehen wollte, hatten sich etliche Buben links und rechts meines Wegs aufgestellt. Walter stand im Hintergrund. Ich wunderte mich darüber; ging aber einfach weiter - und begriff in Sekundenbruchteilen, dass ich hier Spießruten laufen sollte - und wer dafür verantwortlich war. Ich fing an zu rennen - und schon schlug einer nach dem anderen auf mich ein. Schließlich kam ich mit einem gehörigen Schock, blauen Flecken und zerrissenen Kleidern daheim an.

Als meine Mutter wissen wollte, was da passiert sei, erzählte ich es ihr. Daraufhin riet sie mir, das nächste Mal doch zurückzuschlagen und mir nicht alles gefallen zu lassen. Das habe ich dann auch getan. Es wirkte aber nur bedingt, weil meine Wesensart eigentlich friedliebend-harmoniebedürftig war und ich mich nicht ständig mit irgendwem kloppen wollte. Mit Rädelsführer Walter hatte ich noch in den ersten beiden Schuljahren öfter mal auf dem Pausenhof handgreiflich zu tun. Dann ging er von der Schule ab und wanderte mit seiner Mutter in die USA aus.

Erst heute wird mir richtig bewusst, dass es sich bei dieser Verschwörung im Kindergarten schon um eine erste, sehr frühe "Mobbing-Kampagne" gegen mich gehandelt hat. Das zutiefst Erschreckende daran: man erkennt kein eigenes Verschulden oder einen ersichtlichen Grund dafür! Das Verhalten der anderen trifft einen völlig unerwartet - wie ein Blitz aus heiterem Himmel...

 

Die Erinnerung an mein letztes Kindergartenjahr beschränkt sich praktisch nur auf zwei Ereignisse. Den nachhaltigsten Eindruck hinterließ das Erscheinen des "Puppenmädchens aus dem Orient". Als lebendige Puppe habe ich sie damals schon gesehen, weil sie sehr klein, dabei aber robust und exotisch war. Ihre Haut schimmerte in olivfarbener Tönung, ihre halblangen Haare waren ganz schwarz, dick und fest, sie besaß überlange dunkle Wimpern und dicke schwarze Brauen fast wie eine Erwachsene über großen braunen Augen. Die Herkunftsbezeichnung Orient für die typisch arabisch-morgenländische Erscheinung der Kleinen passt ebenso wie die beschreibenden Fantasiebilder einer jungen Scheherazade oder der Königin von Saba in Mädchengestalt.

Bei mir weckte das Puppenkind sofort große Neugier, Bewunderung und einen starken Beschützerinstikt. Anfangs zog ich die Kleine häufig auf meine Knie, um sie ganz aus der Nähe auf mich einwirken zu lassen. Das mochte sie allerdings nur für eine kurze Zeit. Dann wurde sie zappelig-nervös und quengelte, so dass ich sie schnell wieder gehen lassen musste. Mit der Zeit verlor ich das Interesse an der Kleinen und wandte mich wieder meinen Altersgenossen zu...

Rund 50 Jahre sollten vergehen, bis mir völlig unerwartet und äußerst lebendig das Puppenmädchen wieder in den Sinn kam. Ich traf die gerade gefundene Psychotherapeutin Dr. Barbara A. zum ersten Gespräch - und sah in ihr sofort das erwachsene Puppenmädchen! Frau A. ist relativ klein gewachsen, hat einen dunklen Teint und ist das Kind eines renommierten jüdischen Psychiaters, der früher in Odessa praktizierte. Ihr Vater könnte aus einer Familie sephardischer Juden stammen, die Jahrhunderte lang in Nordafrika lebten und sich ab dem Mittelalter nach Vertreibungen aus Spanien und Portugal auch in West- und Osteuropa verbreiteten. Bei Barbara A. stellte sich heraus, dass sie nach einem kürzeren Aufenthalt in Israel zwar nach Deutschland gekommen war - aber nicht in meinen Kindergarten... Nichtsdestotrotz empfand ich die Begegnung wie ein Deja-vu-Erlebnis...

 

Auch in meinem zweiten Erinnerungsblock spielt das Puppenmädchen noch eine kleine Nebenrolle - als Engelchen: in einem Krippenspiel, das wir Kindergartenkinder zu Weihnachten vor großem Elternpublikum aufführten. Ich stellte mit einigen anderen die Hirten auf dem Feld bei Bethlehem dar. Meine Rolle als zünftiger Naturbursche mit Filzhut, Lammfelljacke und großem Hirtenstab hat sich mir auch deshalb so eingebrannt, weil es um das Anzünden eines Hirtenfeuers ging. Wir wechselten uns ab in dem Bemühen, eine Taschenlampe einzuschalten, die zu gut und zu weit unter rotem Pergamentpapier und aufgeschichteten Holzscheiten versteckt war. Bis es schließlich gelang, waren wir alle ganz schön ins Schwitzen geraten.