Die Rekonstruktion eines kurzen Lebens

Ein Zeitdokument, das doppelte Gehässigkeit ausdrückt.

Auf dieser für Ottos Ausreise ausgestellten Geburtsurkunde hat der

Standesbeamte nicht den für das männliche Geschlecht vorgeschriebenen Nazi-Zwangsvornamen "Israel" eingetragen, sondern die weibliche Zwangsform "Sara"...

 

Die Familie: Leopold, Maria, Werner, Otto

Leopold Hess mit Werner (links) und Otto im Kurpark Wiesbaden, ca. 1928 (Sylvia Skinner)
Leopold Hess mit Werner (links) und Otto im Kurpark Wiesbaden, ca. 1928 (Sylvia Skinner)

1916 heiratete der Wiesbadener Kunsthändler Leopold Hess im Alter von 46 Jahren die 37-jährige Mainzer Modeschneiderin Marie Hahn. Leopold stammte aus der angesehenen jüdischen Kaufmannsfamilie Simon Hess. Die Mainzerin Marie Hahn war evangelisch. Die Familie wohnte in Mainz direkt am Rhein gegenüber von Wiesbaden. Die 1919 und 1921 geborenen Söhne Werner und Otto wurden im jüdischen Glauben erzogen. Leopold Hess betrieb in Wiesbaden eine gut gehende Kunsthandlung. Er war kleinwüchsig und nicht bei guter Gesundheit. Schon 1923 konnte er nicht mehr zwischen Mainz und Wiesbaden pendeln; deshalb zog die Familie nach Wiesbaden. 1924 verlegte auch Marie ihr Geschäft auf die andere Rheinseite. 1927 wurde die Kunsthandlung aufgelöst. 1928 erlitt Leopold einen Schlaganfall und war halbseitig gelähmt. Durch die lange Krankheit Leopolds wurde das Familienvermögen immer geringer. Dennoch wollte Marie ihren Söhnen eine gute Schulbildung ermöglichen und schickte sie auf die Oberrealschule. Aber es war von vornherein klar, dass sie nur bis zur Sekunda bleiben konnten.

Durch die Schule kamen die Jungs in Kontakt mit dem jungen Studenten Paul (Yogi) Mayer. Er hatte 1932 in Wiesbaden eine Ortsgruppe der jüdisch-deutschnationalen Jugendbewegung "Schwarzes Fähnlein (S.F.)" gegründet, die in Berlin von Günter Ballin ins Leben gerufen worden war. Neben den Hess-Brüdern gehörten auch ihr Freund Fritz Werner Buchdahl, die Hanau-Brüder und zwei Mädchen zur etwa 12-köpfigen "Pimpfengruppe". Sie wanderten und zelteten im Taunus, nahmen an Sommer- und Winterlagern des Jugend-Reichsbunds teil und absolvierten einen Kletterkurs im Elbsandsteingebirge. Wegen seiner Kletterkünste bekam Otto den Spitznamen "Kraxel", den er auch selbst als Codenamen verwendete. Nach Hitlers Machtübernahme wurde das "Schwarze Fähnlein" verboten und löste sich Ende 1934 auf. Otto Hess hatte noch 1935 Schriftverkehr mit einem Berliner Freund aus dem S.F.: Werner Tom Angress, Codename "Töpper" .

Schon im September 1933 war der Vater Leopold gestorben . Als Werner 1934 aus der Schule ausschied, konnte die Mutter in Wiesbaden keine Lehrstelle mehr für ihn finden, weil nach den NS-Bestimmungen nur noch ein jüdischer Ausbildungsbetrieb erlaubt war. So kam Werner nach Frankfurt in die Lehre, was extra Kosten verursachte. Bei Ottos Schulaustritt 1936 war bereits in der ganzen Region nichts mehr zu bekommen. Jüdische Jugendliche durften auch nur noch Schulen besuchen, die unter jüdischer Leitung standen. So kam er auf eine Fachschule ins Sudetenland: die "Technische Lehranstalt und Handelsschule" in Bodenbach bei Aussig. Um das Schulgeld bezahlen zu können, löste die Mutter sogar ihre Lebensversicherung auf. In Bodenbach hatte Otto die grandiose Naturlandschaft des Elbsandsteingebirges vor der Haustüre: ideal für Kletterpartien und Wandertouren. Auf einer solchen Tour hat er die Brüder Morgenbesser (später "Morgan") getroffen und dabei einen so starken Eindruck hinterlassen, dass sie sich 2002 noch gut an ihn erinnern konnten. 1937 konnte Otto wegen seiner guten Leistungen sogar an die öffentliche "Technische Schule" in Weimar wechseln. Als am 9. November 1938 sein Bruder Werner aber auf dem Wiesbadener Bahnhof verhaftet und ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt worden war, da nahm Marie Hess Otto wieder zu sich nach Hause. Für sie stand nun fest, dass beide Söhne das Land verlassen mussten. Zunächst ging es aber darum, Werner wieder frei zu bekommen. Das Terror-Pogrom war von den Nazis ja als drastische Aufforderung an die noch in Deutschland lebenden jüdischen Mitbürger gedacht, doch nun das Land zu verlassen. Deshalb wurden die meisten KZ-Inhaftierten auch wieder entlassen, sobald sie einen Ausreiseantrag stellten. Werner wurde zusammen mit Fritz Neumann, dem Mann seiner Tante Lisbeth Hess, in Buchenwald gefangen gehalten und unmenschlich drangsaliert1. Dabei kümmerte er sich noch rührend um den "Großschwager".

Unter enormem Zeitdruck, seelischer Not und mit großem Geldaufwand schaffte es die Mutter, in England Zwischenaufenthaltsgenehmigungen für die Söhne zur bekommen, die von dort weiter in die USA auswandern sollten. Als Einreisevoraussetzung verlangte der britische Staat aber eine Geldbürgschaft, die vor Ort gestellt werden musste. Die Söhne durften in England nicht arbeiten, konnten sich ihren Lebensunterhalt also nicht selbst verdienen. Mit Hilfe von Freunden fand Marie eine "Ausländerin", die die Bürgschaft leistete. Zusätzlich musste sie selbst noch nach London fahren, um die Genehmigungen zu bekommen. Weitere Finanzmittel waren notwendig für die Schiffsfahrkarten der Söhne nach England und dann weiter in die USA sowie für ihren Unterhalt. Werner Hess reiste im März 1939 als erster aus. Otto folgte am 19. August - gerade noch rechtzeitig vor Hitlers Polen-Feldzug im September und der Kriegserklärung Großbritanniens an Deutschland. In ihren Ausreiseanträgen hatten die Brüder die Adressen ihrer Bürgen in London angegeben.

Als Marie Hess ihre Söhne in Sicherheit wusste, wurde sie krank und war längere Zeit in ärztlicher Behandlung. Trotzdem musste sie weiter in ihrer Schneiderei arbeiten. Von den Aufträgen und Einnahmen lebte sie selbst und bezahlte noch zwei angestellte Arbeiterinnen. Weitere psychische Belastungen für Marie: 1937 bereits war auch Max Hess gestorben, der jüngere Bruder ihres Mannes. Fritz Neumann flüchtete nach seinen schrecklichen KZ-Erlebnissen mit seiner Frau Lisbeth, Leopolds Schwester, 1939 nach Indien. 1942 wurde Max Hess' Frau Martha (geborene Weil) deportiert. All die guten Freunde der Familie aus der jüdischen Gemeinde Wiesbadens wie die Guthmanns und die Buchdahls waren nicht mehr da: entweder abgeholt oder ausgewandert... Obwohl Marie selbst nicht von der Judenverfolgung betroffen war, litt sie doch sehr darunter. Außerdem erhielt sie während der Kriegsjahre keinerlei Lebenszeichen von ihren Söhnen und sorgte sich ständig um deren Schicksal. Erst Ende 1945 meldete sich Werner bei ihr, der mit der US-Army nach Indien gekommen war.2

 

1 Zitiert aus einem Brief Fritz Neumanns an Werner Hess' Frau Adrienne aus dem Jahr 1976 (Werner war bereits 1974 im Alter von 55 Jahren gestorben). Über die Details des KZ-Aufenthalts wollte Neumann nicht sprechen.

2 Familiendaten zitiert aus einer Eidesstattlichen Versicherung, die Marie Hess 1957 beim Konsulat der BRD in Kansas City für ihren Entschädigungsantrag abgegeben hatte.

Werner und Otto in London

Bis zur Weiterreise Werners in die USA im Dezember 1939 wohnten die Brüder nur etwa 10 Minuten Fußweg voneinander entfernt im Stadtteil Hampstead im Nordwesten Londons. Werner am Eton-Rise in der Nähe der U-Bahn-Station und des berühmten Pubs "Swiss Cottage". Otto wohnte erst in den Maresfield Gardens (nur ein paar Häuser vom Exil-Wohnsitz Sigmund Freunds entfernt) und zog dann in die Howitt Road. Viele Flüchtlinge hatten in Hampstead eine Bleibe gefunden, so dass dort so etwas wie eine Deutsche Kolonie in London entstanden war. Am Buckland Crescent, in der Nähe des Belsize Square, gründete sich 1939 die "Neue Liberale Jüdische Gemeinde" in Hampstead. Werner und Otto waren zwar offiziell jüdischen Glaubens, haben sich aber nicht der Gemeinde angeschlossen.
Anscheinend gab es in der Gegend um die U-Bahn-Station "Swiss Cottage" und dem als Holzhaus im schweizerischen Stil erbaute Pub gleichen Namens auch eine Kolonie von Schweizer Staatsangehörigen in London. Das ergibt sich im Zusammenhang mit den Bürgen der Brüder in England1.  

Nachdem sich nach Hitlers Polen-Überfall Großbritannien und Deutschland im Kriegszustand befanden, wurden die Einwanderer aus Deutschland, Österreich und dem Sudetenland als so genannte Enemy Aliens (Feindausländer) vor Tribunale geladen, die sie nach ihrer Vorgeschichte und politischen Einstellung befragten. So sollte festgestellt werden, ob es sich tatsächlich um Flüchtlinge handelte. Bei Zweifeln kamen die Befragten in ein Internierungslager. Otto hat sich wohl gleich nach Kriegsausbruch im September um die Aufnahme in die britische Armee beworben - weil er das Mindestalter von 19 Jahren noch nicht erreicht hatte, war er aber zunächst abgelehnt worden. Am 30. Oktober 1939 wurde er vor ein britisches Überprüfungstribunal geladen und befragt. Er erhielt  den Status "Male Enemy Alien - Exemption from Internment - Refugee". Werner scheint nicht befragt worden zu sein; weil bei ihm ja bereits feststand, dass er in die USA auswandern würde. Er hatte durch einen Mentor eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in Saint Joseph in Missouri erhalten. Bemerkenswert ist, dass Otto nicht mit Werner nach Amerika ging, obwohl das ursprünglich vorgesehen gewesen war...


Vielleicht wollte Otto bleiben, weil es in Amerika keine Arbeitsmöglichkeit für ihn gab. Oder weil man ihm vom War Office schon seine Militäraufnahme in Aussicht gestellt hatte. Und vielleicht auch deshalb, weil er seinen Freund Edgar Bender, genannt "Jacky", damals schon kennen gelernt hatte. Edgar war mit seinen Eltern 1936 im Alter von 16 Jahren aus Frankfurt nach England gekommen. Er besuchte erst Englisch-Sprachkurse und absolvierte dann eine Kochlehre im Park Lane Hotel in London. Die Familie lebte in Edgware, der Vater betrieb dort eine Suppenfabrik. Otto und Edgar meldeten sich jedenfalls am selben Tag (29. April 1940) beim selben Rekrutierungszentrum (Euston Road) zum freiwilligen Militärdienst. So kamen sie zusammen in das Military Pioneer Corps, die einzige Einheit die damals "Flüchtlings-Feindausländern" offen stand.

 

Laut Yogi Mayer, dem ehemaligen Leiter der "Pimpfengruppe Schwarzes Fähnlein", sollen zehn Fähnlein-Jungs aus Wiesbaden nach England gekommen sein und Militärdienst geleistet haben. Bisher liegen aber keine Belege dafür vor, dass Otto seine ehemaligen Kameraden in London getroffen hat. Vor allem fehlt jeder Hinweis auf eine Verbindung zu Fritz Werner Buchdahl, mit dem zusammen Otto im September 1944 die Geheimmission nach Südkärnten und Kroatien angetreten haben soll .
Otto war beim "Agricultural Committee", einer jüdischen Flüchtlings-Hilfsorganisation, in London gemeldet. Also hatte er sich wohl um Farmarbeit bemüht. Nach der Abreise Werners im Dezember könnte er zu Weihnachten 1939 sehr einsam, alleine und verzweifelt gewesen sein. Sicher galten seine Gedanken der Mutter, die alleine in Wiesbaden zurückgeblieben war. Wie wir wissen, hat Otto gezeichnet und Gedichte geschrieben. Möglicherweise begann er schon damals damit. Eine kleine gedruckte Gedichtsammlung aus dem Jahr 1943 ist erhalten geblieben. Sie war seiner Mutter gewidmet...

 

1Werners Bürge war ein Mr. A. "Jonas". Er wohnte 27 Holne Chase, London N2 - nicht weit von Hampstead entfernt. Noch eindeutiger bei Otto mit einer Ms. Joan "Wicht" als Bürgin. Seltsamerweise hatte sie aber keinen Wohnsitz in London, sondern sogar eine Schweizer Adresse angegeben: "Hotel Oberland in Interlaken".

Aus dem Jahr 1943 ist noch eine dritte Wohnadresse Ottos in Hampstead bekannt: 9 Downside Crescent. Dieses Anwesen soll nach der Aussage einer Zeitzeugin einem Schweizer Paar gehört haben, das während des Zweiten Weltkriegs auch dort lebte.