"Wer bin ich?" Eine Annäherung

2010 ist das dritte autobiografische Werk des südafrikanischen Autors John Maxwell Coetzee erschienen: "Sommer des Lebens".

In diesem Buch hat er erstmals einen unkonventionellen, collageartigen Aufbau aus Materialfragmenten gewagt - und doch kein bruchstückartiges Konstrukt geschaffen, sondern eine lesenswerte Montage...

Nun will ich mich in meinem ersten Literatur-Versuch keineswegs mit dem arrivierten Nobelpreisträger Coetzee messen. Aber immerhin stammt mein Collage-Konzept schon aus dem Jahr 2002.

Zudem dürfte die Veröffentlichungsform des literarischen Experiments im Internet auch 2011 noch etwas Pionierhaftes an sich haben...

Diese Grundbedingungen machen mir Mut, den Annäherungsprozess zu wagen. An Coetzee und seine Aussage "Ich ist ein anderer" - und an mein wirkliches Ich.

Ich bin sehr gespannt, was sich daraus ergeben wird!

  

Dieses Bild ist 2002 während meiner psychsomatischen Kur in der Maltherapie entstanden. Die Vorgabe lautete:

"Malen Sie das Tier, in dem Sie sich am besten wiedererkennen!"

Damals habe ich den Widder als meine idealtypische tierische Verkörperung gesehen: das stolze, wehrhafte männliche Bergschaf.

Im Malergebnis war dieses Wunschbild allerdings nicht entstanden.

Stattdessen habe ich eine Art Wolpertinger geboren. Ein Zwitterwesen aus Hund und Ziege. Selbst die Hörner sind ziemlich mißlungen und alles andere als wehrhaft...

Welche Erkenntnis ergibt sich daraus?

  • Dass ich halt kein geübter Zeichner oder Maler bin, nicht richtig perspektivisch darstellen kann - und das Bild noch mal neu malen sollte?
  • Dass ich es nicht schaffe, der zu sein, der ich gern sein möchte?

Aus diesen Wesen bin ich geworden...

Der Moderne Ritter: das Andere Ich aus altem Erbe

Die Symbolfigur des Modernen Ritter ist nicht  von ungefähr entstanden. Schlüsselerlebnis war eine Vision als etwa Zwölfjähriger in einem Kinder-Erholungsheim in Berchtesgaden: eine unvergessliche Fiebertraum-Schlafwandel-Flucht vor einer Reitergruppe in voller Rüstung mit Topfhelmen und eingelegten Lanzen. Sie hatten mich, den zu Fuß um sein Leben Laufenden, im Nu eingeholt und eingekreist. Keuchend kniete ich da im Staub, hob die gefalteten Hände zum Himmel und flehte um Gnade...

Dann vergingen mehr als 20 Jahre, bis sich aus einer ersten Existenz- und Identitätskrise der Wunsch entwickelte, mehr über meine männlichen Vorfahren und ihre Herkunft herauszubekommen. Nachforschungen in der ehemaligen DDR erbrachten eine genealogischen Reihe im männlichen Stamm bis um das Jahr 1600 und einen vorübergehenden Wohnort im Vogtland. Weil aber in unserer Familie über Generationen hinweg die Herkunft aus dem Ort Stübig bei Scheßlitz in Oberfranken weitergegeben worden war, ließ mir die Sache keine Ruhe mehr... 

Dr. Gustav Voit, der 2001 leider bereits verstorbene Historiker, Experte für Fränkische Landeskunde und Adelsforscher, ging von der Abstammung unserer Familie aus dem Geschlecht der Ritter von Stübig aus, die mit Doppel - und Wechselnamen Stübig/ Neideck in den Quellen erscheinen. Neideck nannten sie sich nach der Burg über dem Wiesenttal gegenüber von Streitberg. Dort waren Angehörige der Familie urkundlich nachweisbar über einen Zeitraum von rund 150 Jahren Burgvögte und Soldaten in bischöflich-bambergischen und schlüsselbergischen Diensten. Die neuesten archäologischen Erkenntnisse sprechen sogar dafür, dass die Stübig gegen Ende des 12. Jahrhunderts den heute noch als Ruine und Wahrzeichen der Fränkischen Schweiz erhaltenen Wohnturm erbaut haben...

Nach Voits Hinweis wurde mir erst bewußt, dass ich ja im Lauf von zwei Jahrzehnten immer wieder die Ruine Neideck besucht hatte. Jedes mal war dort ein tiefes Gefühl von Vertrautheit und Geborgenheit entstanden...

Bei der intensiveren Beschäftigung mit der Geschichte der Familie Stübig im Kontext mit der Sozialgeschichte des Ritterstands und der mittelalterlichen Herrschaftsstrukturen erkannte ich Parallelen und Analogien zur Jetztzeit: zu mir und zu meiner Lebensrolle. Gerade für meine Schaffenszeiten als Selbständiger/ Freiberufler, Kopfwerker und Dienstleister in der Kommunikationsbranche empfand ich die englischsprachige, aus dem Vokabular des Rittertums entlehnte Berufsbezeichnung "Freelancer" absolut zutreffend. Der moderne Ritter/ Freelancer ist sehr gut vergleichbar mit dem sozial abgestiegenen, land- und lehenlosen, verarmten Ritter des Spätmittelalters, der sich und seine Hauptwaffe (die freie Lanze) notgedrungen von wechselnden Auftraggebern für bezahlte Schutz-, Kampf- und Kriegsdienste anstellen lassen musste.

Beiden gemeinsam ist, dass sie in vieler Hinsicht völlig abhängig sind - und keinewegs frei!