"Attached to Commando Depot"...

"Achnacarry House": Commando Depot, Trainingszentrum aller Commandos und HQ des 10. Commando
"Achnacarry House": Commando Depot, Trainingszentrum aller Commandos und HQ des 10. Commando

Über diese Phase von Ottos Dienstkarriere gibt es wieder nur sehr dürftige Informationen. Im Kontext mit bekannten militär- und kriegsgeschichtlichen Daten erscheinen einige Abschnitte des Zeitraums von April bis Oktober 1942 sowohl signifikant als auch mysteriös...
Die offiziellen Militäraufzeichnungen geben an: "Attached to Commando Depot 12.04.42".
Was damals "Commando Depot" genannt wurde, war das Hauptquartier und Ausbildungszentrum aller Commando-Soldaten. Von 1942 bis 1945 befand es sich in der Mitte Schottlands im "Achnacarry House", dem Stammsitz des Clanchefs Cameron of Lochiel in der Nähe von Fort William. Er hatte das Schloss und sein Land rund um drei Hochland-Lochs unweit des Ben Nevis dem War Office zur Verfügung gestellt
Wie wir von Edgar Bender wissen, hatte sich Otto im Pioneer Corps um die Aufnahme in die Geheimorganisation SOE (Strategic Operatios Executive) beworben. Das Aufgabenspektrum der SOE umfasste Subversion, Sabotage, Propaganda und Geheime Kriegsführung hinter den feindlichen Linien.

Laut Yogi Mayer, der nach seinem Dienst in der 87. Kompanie des Pioneer Corps zur SOE gekommen war, soll die Organisation im Hauptquartier des 10. (Inter-Alliierten) Commando in Achnacarry eine (inoffizielle) "Section 12" unterhalten haben, die sich demzufolge mit SOE-spezifischer Grundausbildung befasst haben muss1
So wäre jedenfalls auch erklärbar, warum in der Formulierung der existierenden Militärdaten Otto für einen Zeitraum von rund sieben Monaten dem Commando Depot angegliedert wird ("attached") - und nicht dorthin versetzt ("posted").
Wir wissen nun, dass Otto auch im 3 troop des 10. Commando in Aberdovey ausgebildet wurde. Sein Aufenthalt dort kann aber allenfalls rund drei Monate umfasst haben. Diese kurze Zeitspanne spricht dafür, dass es dabei nur noch um das Absolvieren gewisser militärischer Ausbildungsteile gehen konnte...
Weitere Fragen ergeben sich aus der Gründungsgeschichte des 3 troop. Nach dem Ideen- und Segensgeber Vizeadmiral Lord Louis Mountbatten hatte er auch einen realen Gründervater: den perfekt Deutsch sprechenden walisischen Hauptmann Bryan Hilton Jones. Er diente beim 4. Commando in Troon in Schottland und war damit beauftragt worden, unter größter Geheimhaltung diese einzigartige Einheit  deutschsprachiger Spezialisten im 10. Inter-Alliierten Commando aufzubauen. Kurz vorher waren ein französischer und ein holländischer Trupp entstanden. Daher erhielt der nächste den nahe liegenden Tarnnamen 3. Trupp. Als formelles Gründungsdatum gilt der 11. Juli 1942.
Ian Dear zitiert aus dem Nachkriegsbericht Hilton Jones' über den Aufbau der Einheit und aus deren Kriegstagebuch. Danach sind "sieben der ersten acht" in den Trupp aufgenommenen Männer aus dem Pioneer Corps gekommen and hatten mit dem Militärischen Nachrichtendienst des War Office zusammengearbeitet. Um welche Art der Zusammenarbeit handelte es sich dabei? Was war mit dem achten Mann?  Weiter heißt es, dass "die meisten" vorher schon eine Fallschirm-Springerausbildung und "special training" absolviert, von britischem Formaldrill und Waffenausbildung aber keine Ahnung gehabt hätten. Laut Ian Dear waren die acht Gründungsmitglieder des 3 troop neben Sergeant Lane und dem Truppoffizier Hilton Jones "wahrscheinlich Deutsch sprechende Tschechen" - demnach wohl Sudetendeutsche! Bis auf wenige Facetten passen Ottos Daten gut ins Bild dieser Stamm-Mannschaft. Nach einer Anfangsausbildung beim 1. Commando (?) in Schottland soll Hilton Jones mit diesen Männern am 24. Juli in Wales engekommen sein.

Captain Hilton Jones privat mit Frau Edwina, Baby und 3 troop "Maskotchen" 1942 in Wales
Captain Hilton Jones privat mit Frau Edwina, Baby und 3 troop "Maskotchen" 1942 in Wales

Harlech - Dieppe? - Aberdovey

Hilton Jones nahm die Männer der 3troop-Keimzelle zunächst mit an den provisorischen Stationierungsort Harlech an der nordwalisischen Küste. Dort begann er sofort mit einem harten Trainingsprogramm zur körperlichen Ertüchtigung. Extremes Klettern und das Überwinden von Hindernissen unter erschwerten Bedingungen waren Hilton Jones' Lieblingsdisziplinen. Ein Übungsobjekt dafür soll das Harlech Castle gewesen sein. Darin war die Home Guard stationiert - und die Männer sollten die Burgmauern nachts erklimmen - wobei die Soldaten der Home Guard keine Ahnung davon hatten... Ein anderes Beispiel für die Leistungsanforderungen: der 53-Meilen-Marsch von Harlech auf den Gipfel des Mount Snowdon und zurück in leichter Kampfausrüstung. Die Männer schafften das in 17 Stunden, bei drei Stunden Pause auf dem Berggipfel.

Mitte August 1942 war das Trainingsprogramm des 3 troop aber schon wieder unterbrochen. Fünf der bereits erwähnten Sudetendeutschen waren zur "Operation Jubilee" abgestellt worden: dem Großangriff auf die deutsche Garnison und vier Küstenbatterien der Stadt Dieppe am 18./19. August. Ob Otto Hess sich unter den Invasoren befunden hat, ist bis heute ungeklärt. Zum Kontingent des 3 troop scheint er jedenfalls nicht gehört zu haben. Möglicherweise aber war er im neunköpfigen Team der "Small Scale Raiding Force/ SSRF" (= SOE) oder bei der Sieben-Mann-Gruppe des 10. Commando, die alle mit Sonderaufträgen beteiligt waren.

Die Aufträge dieser Gruppierungen waren als geheim eingestuft und deshalb liegen nur vage Angaben vor wie "Suchaktion im Rathaus, Auswählen von bis zu 12 'evacuees' ((= deutsche Gefangene)), Verteilen von Propaganda-Flugblättern, Sondermission"...
Das SSRF-Team fuhr auf dem Motor-Torpedoboot MTB 344 zur französischen Atlantikküste und landete zwischen Dieppe und Pourville. Aber auch mit zwei Anläufen und eigenen Verlusten gelang es ihnen nicht, ihre Zielen zu erreichen.
Über die Verluste der SSRF gibt es keinerlei Aufzeichnungen.

Die nächste Phase in Ottos Militärlaufbahn ist ebenfalls nur fragmentarisch beleuchtet: die Ausbildung am neuen Stationierungsort Aberdovey in Wales. Belege dafür gibt es nur durch Berichte von ehemaligen Kameraden im 3 troop. Diese Männer konnten ihn nach den Angaben im 3 troop-Kriegstagebuch und Ottos Militärdaten aber eigentlich gar nicht kennen: Otto wurde mit Datum 26. Oktober zum 10. Commando versetzt ("posted"). Laut Kriegstagebuch und Ian Dear soll die zweite Rekrutengruppe aber erst am 26. Oktober in Aberdovey angekommen sein. Hier ist dem Tagebuchschreiber wohl ein Fehler unterlaufen.
Brian Grant und Paul Streeten erinnern sich sehr gut an die gemeinsame Zeit mit OttoHess/ Peter Giles im 3 troop.

Brian Grant hatte das hier veröffentlichte Foto von Otto in Uniform aufgenommen und es über all die Jahre aufgehoben. Paul Streeten (ehemals Paul Hornig aus Wien) und Otto wohnten im selben Quartier in Aberdovey. Commandotruppen hatten ja aus Prinzip keine Kasernen. Das brachte den Soldaten das Privileg der Unterkunft bei Privatleuten am Ort. So berichtet Paul Streeten sehr anschaulich über ihre Zimmerwirtin und die "Stuben" bei Mr. und Mrs. Jones im Haus des "Glen Aber Cafe": "Mrs. Jones talked and behaved like a brothel madam, and her house was furnished accordingly. But she had a heart of gold and looked after us very well. ...access to unrationed food and wartime conditions that suited us: thick soft cushions, lush colours, wide beds, large mirrors. In my room there was a chamber pot that had a special non-splashing device, and when you lifted it, a musical box played 'landlord fill the bowl again'".  Über Otto sagt er: "... a marvellous man: gentle, quiet and very good looking, he wrote fine poetry. He was an idealist and volunteered for particularly dangerous work behind the enemy lines... if I remember rightly, the first member of the troop to be detached and sent on a mission. He was one of the two or three best people I have known in my long life!"
Als Brian Grant im August 2001 Sylvia Skinner das Bild Ottos schickte, schrieb er dazu: "He was my friend whom I liked and admired during the short time that we served together. He was not only particularly good looking, but had exceptional charm, which masked a strong character..." Zum Schluss vermerkt er, dass er morgen vierundachtzig werde und sich mit dem Finden und Übersenden des Fotos selbst das schönste Geschenk gemacht habe...