Viel sagende Hinterlassenschaften...


Die hier abgebildeten Gegenstände hat Sylvia Skinner erst 2007 erhalten. Entdeckt wurden sie von einem Giles-Enkelsohn, dem in alten Familienunterlagen eine kleine Lederbrieftasche aufgefallen war. Darin steckten das Passfoto und der eingerissene Stoff-Fleck mit der Stickerei...

Das Stoffabzeichen mit dem "Ballon" war in der Terminologie der britischen Streitkräfte ein "Qualification badge for non-regular parachute-trained personell":

ein Fallschirm-Springerabzeichen "für nicht-regulär ausgebildetes Personal". Das übliche militärische Springerabzeichen zeigte zwei Schwingen mit einem Fallschirm in der Mitte.

Die Existenz des Abzeichens beweist, dass Otto - wohl im Herbst 1943 - tatsächlich eine nicht-militärische Springerausbildung beim RAF-Flugplatz in Ringway absolviert hat.

Seine Unterkunft in dieser Zeit dürfte "Dunham House" gewesen sein. In diesem großen Gebäude im Edwardianischen Baustil befand sich eine "Special Training School" der SOE, an der insbesondere die Agenten für das Französische Netzwerk geschult wurden. Wer dort untergebracht war, kam sowohl zur Springerausbildung als auch zu anderen Kursen.

Bei Agenten waren mindestens zwei Pflichtsprünge vorgesehen: einer aus einem Flugzeug und der andere aus einem statischen Ballon mit dem Spitznamen "Bessie". Bei den Sprüngen trugen die Auszubildenden einen Miniaturspaten, festgeschnallt an einem Bein, mit dem sie nach der Landung ihren Fallschirm und den Sprunganzug vergraben sollten. Möglicherweise hat sich Otto bei einem Übungssprung verletzt, so dass er ins Krankenhaus musste. Wir wissen nicht, ob er nur zur Springerausbildung oder auch zum Besuch eines anderen Kurses in Dunham House untergebracht war. 

Das Passfoto ist die eigentliche Überraschung!

Die darauf sichtbare Person wirkt in ihrer Erscheinung wie ein mindestens dreißigjähriger Mann - und nicht wie ein 23-jähriger!

Verglichen mit Ottos früheren Aufnahmen erzeugen Gesichtsausdruck und Gemütsaustrahlung nun den Eindruck, als ob er in kurzer Zeit sehr viel durchlebt und durchlitten habe...

Das Foto trägt auf der Rückseite einen Datumsstempel: "27 April 1944".  

Wahrscheinlich wurden damals aktuelle Passfotos für die Anfertigung falscher Papiere oder dergleichen benötigt und Otto hat einen Abzug davon übrigbehalten.

Üblicherweise wurden nicht-reguläre Springerabzeichen auf dem rechten unteren Ärmel der Uniformjacke getragen. So hatte wohl auch Otto sein "badge" an dieser Stelle auf die Battledress-Jacke genäht. Die abgerissenen Stoff-Randstücke könnten bedeuten, dass der Aufnäher hastig abgetrennt wurde - weil ein Einsatz kurz bevor stand und diese Arbeit bisher vergessen worden war... Zum Verständnis: Die Agenten der SOE und anderer Geheimorganisationen trugen häufig britische Kampfanzüge auf ihren Einsätzen. Nach Möglichkeit kaschiert mit anderen Kleidungsstücken. So bestand im Fall einer Gefangennahme wenigstens eine kleine Chance, dass sie nicht gleich als Spione (in Zivilkleidung oder falschen Uniformen) erschossen wurden. Sofern die Männer zuvor bei Militäreinheiten gedient hatten und bereits eigene Uniformen besaßen, mussten darauf angebrachte ungewöhnliche oder verräterische Insignien entfernt werden.  

Der letzte Aufenthalt bei der Familie Giles

Norrie Giles hat lange nach dem Krieg eine gestaltete Familiengeschichte verfasst. Darin behandelt er in einem Kapitel über seine Mutter auch die Episode der "Gastfamilie" Giles, die während des Kriegs viele Besucher empfing. Darunter die deutschen Juden, die während ihrer Dienstzeit im Pioneer Corps regelmäßig im Haus gewesen waren. Namentlich nennt er Edgar Bender, Rudi Edler und Otto Hess, an den er sich am besten erinnern konnte, weil er "besonders" gewesen sei.

Norrie widmet Otto einen ganzen Absatz - mit Bild. Darin erfährt man in Kurzform von Ottos Tarnnamen, seinem Dienst bei den Commandos - und der Zugehörigkeit zur SOE. (Die Familie wusste also von Ottos geheimem Leben!) Norrie kann sich gut erinnern, dass Otto allen noch Geschenke brachte, bevor er auf "seine letzte Operation ging". Und er fügt hinzu: "Ich denke, er hatte eine Todes-Vorahnung".

Otto hatte seine Reithose, ein Jacket und seine Uhr bei den Giles gelassen. Als er nicht mehr zurück kam und für tot erklärt wurde, trug Norrie diese Sachen mehrere Jahre. Der Absatz schließt mit den Worten: "He was a lovely man".

Bei dem von Norrie Giles geschilderten Besuch hat Otto offenbar auch das Passfoto und das Springerabzeichen hinterlassen.

Der Besuchszeitpunkt könnte Ende April gewesen sein.