Otto, Edgar und die Familie Giles

Bei Mary Tavy gab es einst die weltgrößte Kupfermine - zu Ottos Zeit den Granitsteinbruch
Bei Mary Tavy gab es einst die weltgrößte Kupfermine - zu Ottos Zeit den Granitsteinbruch

Das Pioneer-Corps-Trainingszentrum in Kent an der englischen Ostküste war nach der Besetzung Frankreichs und der nun drohenden deutschen Invasion ins Landesinnere nach Devon verlegt worden. Im "Wilisworthy Camp" im westlichen Dartmoorgebiet wurden nun alle wieder zu Arbeitsdienst-Soldaten ausgebildet. Das Gelände erwies sich aber bald als ungeeignet. So verlegte man das Zentrum weiter in die Feriensiedlung "Westward Ho"(!) an der Westküste bei Bideford.
Edgar Bender hat kurz vor seinem Tod im Juli 2000 noch Erinnerungen zu Papier gebracht. Darin schreibt er, dass er im Pioneer Corps nach dem Übergangscamp im Dartmoor in eine Steinbruch-Arbeitsdiensteinheit nach Mary Tavy in der Nähe von Tavistock abkommandiert wurde. In Ottos Dienstaufzeichnungen steht: "Posted to 165th. Company, 07.09.40"

In dieser 165. Kompanie muss auch Edgar Bender gewesen sein. Denn wir wissen, dass Otto und Edgar in Mary Tavy Dienst taten und dort die Farmerfamilie Giles kennen lernten. Aus dem Tagebuch der 165. Kompanie ist nur zu erfahren, dass am "16.12.1941 eine Abordnung (Detachment) bei Tavistock" stationiert war.
In Mary Tavy dürfte Otto schöne, unbeschwerte Zeiten verbracht haben. Edgar erinnerte sich, dass sie schon nach einigen Wochen zu einer Tanzveranstaltung am Ort eingeladen wurden. Offenbar hatten die Ladies britische Tanzpartner erwartet. Als dann aber Soldaten in britischen Uniformen auftauchten, die ganz anders aussahen und sprachen, erregte das noch größeres Interesse. Nachdem ihre Herkunft geklärt war, kamen ihnen die Menschen am Ort sehr freundlich entgegen. Einige ließen sie sogar ihre Badezimmer benutzen; denn sonst mussten sie sich am Fluß Tavy waschen. Besonders entgegen kommend war die Farmersfrau Mrs. Giles, die ihr Anwesen "Wringworthy" in Mary Tavy praktisch als offenes Haus für die Flüchtlinge in Uniform zur Verfügung stellte. An den Wochenenden waren die jungen Männer oft zum Essen eingeladen. Die Kinder der Familie erinnerten sich als Erwachsene noch an Edgar Bender und Rudi Edler. Und an den beliebtesten Dauergast: Otto Hess! Die Giles waren wohl Ottos Ersatzfamilie geworden - und die Familie selbst hatte ihn quasi adoptiert. Otto wählte sich später auch den Tarnnamen Giles, bewahrte über die Jahre persönliche Habe im Haus der Familie und kam in kurzen Diensturlauben zu Besuch. Nach Ottos Tod erzählte Dorothy Giles den Kindern, man habe ihr eine Pension angeboten, weil man annahm, sie sei seine Frau...
Die Giles besaßen auch einen Wallach, auf dem Otto das Reiten lernte. Edgar lieh sich hin und wieder ein Pony aus. Und dann ritten die beiden zusammen über die Hügel des Dartmoor. Mit dem gemeinsam gekauften Norton-Motorrad fuhren sie ins Kino nach Torquay an der Küste.
Nach Edgar Benders Aufzeichnungen war die Steinbruch-Arbeitsgruppe im Jahr 1941 in das Ferienlager Westward Ho bei Bideford verlegt worden. Von dort aus ging es wahrscheinlich zu den üblichen Pioneer-Corps-Arbeitseinsätzen wie Gräben ausheben, Leitungen verlegen, Fundamente betonieren, Baracken bauen und anstreichen oder Güterwaggons entladen. Allerdings durften sie für einige Monate in ihrer Freizeit das Lagergelände nicht verlassen und bekamen keinen Urlaub.
Das kann daran gelegen haben, dass es in England inzwischen die Territorialarmee oder auch "Home Guard" gab. Diesen nicht mehr wehrfähigen Freizeit- und Rentnersoldaten mussten deutsch sprechende Männer in britischer Uniform auf Anhieb verdächtig vorkommen... Noch dazu in einer für die Briten sehr kritischen Kriegsphase mit Niederlagen an allen Fronten.
Offenbar war die Einheit gegen Ende 1941 wieder nach Mary Tavy zur Arbeit im Granitsteinbruch verlegt worden, so dass es den Freunden weiterhin sehr gut ging.
Allerdings hatte sich ihr dringendster Wunsch immer noch nicht erfüllt: endlich in eine Kampfeinheit aufgenommen zu werden. Edgar schrieb  immer wieder Petitionen an den Unterstaatssekretär im Kriegsministerium. Otto soll sich für die Geheimorganisation SOE beworben haben. Im Frühjahr 1942 schließlich hatten sie es geschafft: Otto wurde dem Commando-Depot überstellt. Edgar kam zum Panzer-Corps.