Zeitgeschichtliche Dokumente...

Immerhin gibt es doch einige Informationsquellen, die uns über Ottos Leben im Jahr 1943 Aufschluss geben:

1. Eine kleine, seiner Mutter gewidmete Gedichtsammlung, die er in Heftform 1943 drucken ließ.

2. Ein kurzes Dankschreiben an Rosemary Giles vom 5. September, in Brighton abgestempelt.

3. Die Auskunft eines ehemaligen Kameraden aus dem 3 troop, er habe Otto während seiner Fallschirm-Sprungausbildung im Herbst 1943 in der Nähe von Ringway zufällig getroffen - und Otto habe ihm erzählt, er sei gerade "in einem großen Haus in der Gegend" und das sei alles, was er sagen könne...

4. Einen Brief Ottos an seinen Freund "Jacky" (Edgar Bender), der offenbar in der Zeit um den Jahreswechsel 1943/44 geschrieben wurde und bezeichnende Details enthält.

Diese Memorabila stammen aus dem Nachlass von Edgar Bender (gestorben 2000) und aus dem Besitz der Familie Giles in Devon.

Bezeichnende Gedichte...


Anmerkungen...

Aus den Gedichten ist klar erkennbar, wie sehr Otto an seiner Mutter hing. Er wusste, was sie für seinen Bruder Werner und für ihn erreicht hatte - und zu welchem Preis. So bewegten ihn sicher immer wieder Gedanken, ob es ihr wohl gut ging und wie sie im Deutschland seiner Vertreiber überleben konnte...

Wie einsam und verlassen er sich Ende 1942 fühlte und wie groß sein Heimweh war, das spürt man aus jeder Zeile des Weihnachtsgedichts.

Ottos Verse erzählen aber auch über seinen ungebrochenen Hang zur deutschen Identität, seine Liebe zur Muttersprache und zur Heimat.

In "Europa 1943 - der wahre Kreuzzug" offenbart er die Beweggründe für seinen Kampf. Drückt sich darin auch sein erster persönlicher "Kreuzzugseinsatz" aus?

Das Gedicht über den "verlorenen Freund" hatte er höchstwahrscheinlich seinem Bruder Werner gewidmet.

Der befand sich ja in den Vereinigten Staaten - jenseits "des größten Ozeans Wellen". Aber warum betrachtet er den Freund als "verloren"?

Überhaupt zeigt sich ein seltsam schicksalhafter, fatalistischer Tenor - etwas Unabänderliches. Zwischen den Zeilen glaubt man zu lesen, dass da etwas vorgefallen sein mag zwischen den Brüdern, das sie entzweit haben könnte...

Informationen aus dem Brief an "Jacky"

Wenn Otto sich an die Sicherheitsbestimmungen für Agenten gehalten hätte, wäre dieser sehr "persönliche und private Brief" nie geschrieben worden. Er notiert sogar seine Initialen und gibt seine Londoner Wohnadresse 9 Donwside Crescent an. Offenbar erschien es ihm sehr wichtig, seinem Freund Edgar Bender (Jacky) zu erklären, warum er sich so lange Zeit nicht mehr gemeldet hatte.

Wie wir sehen werden, fällt die Erklärung dennoch sehr kryptisch aus und wirft wiederum Fragen auf.

Der Einleitungssatz läßt nur die Deutung zu, dass Otto offenbar kurz vorher einen Brief von Edgar erhalten hatte. Irgendwie scheint der beste Freund erfahren zu haben, dass Otto krank oder verletzt sei und hatte sich deshalb nach seinem Befinden erkundigt.

Otto teilt ihm gleich mit, dass er sich schnell erholt hat und gerade 7 Tage Urlaub in Mary Tavy (M.T.) verlebt. Dann bezieht er sich auf die Verlobung Edgars mit dessen Freundin Ann. Wie wir von Ann (Anneliese) selbst wissen, hatte dieses Ereignis schon im März 1943 stattgefunden.

 


Bemerkenswertes in den Briefseiten 2 und 3:

Um Edgars Eindruck zu zerstreuen, er wolle sich verstecken, gibt ihm Otto folgende Erklärung:

"Es ist eine ganz schön lange Geschichte und sie begann vor über einem Jahr als ich die Commandos verließ und dem Kriegsministerium überstellt wurde für eine Sonderaufgabe, über die ich nicht viel sagen kann, außer, dass ich von Kurs zu Kurs ging in verschiedenen Landesteilen und um meine Identität zu verbergen".

Otto war ab dem 3. November 1942 offiziell dem War Office zugeteilt. Der Hinweis "vor über einem Jahr" läßt also die Annahme zu, dass er den Brief etwa am Jahresende 1943 geschrieben haben könnte.

Die folgenden Ausführungen sind nun aber vor dem Hintergrund der bisherigen Militärkarriere beider Freunde (Edgar war inzwischen Panzerfahrer bei den King's Royal Irish Hussars geworden) und dem üblichen Ausbildungsverfahren für Sondereinsätze des Kriegsministeriums einigermaßen unverständlich: Der Besuch mehrerer Kurse in verschiedenen Landesteilen war einerseits etwas völlig normales - andererseits verbindet Otto damit sogar die Aussage, dass er so auch seine Identität verbergen wollte...

War seine Identität nicht verborgen, wenn er mit dem bei den Commandos angenommenen Tarnnamen Peter Giles von Kurs zu Kurs ging?

Zusätzlich gibt er an, daß er einen Namen annehmen musste, den niemand kennen konnte, der seinen "alten Namen" kannte - und daß er eine Erklärung darüber unterschreiben musste. Nun folgt sogar noch die Anmerkung, dass er immer noch an seiner "Signatur" (Unterschrift/ Initialen/ Signum?) festhält, obwohl etliche Leute beide Namen kennen).

All diese Ausführungen könnten zweierlei bedeuten:

1. Edgar wußte nicht, dass Otto den Tarnnamen Giles angenommen hatte.

2. Die vielleicht wahrscheinlichere Variante:

Otto musste für seine "Sonderaufgabe" einen neuen Tarnnamen annehmen - weil es bereits zu viele Personen gab, die wußten, dass er Hess und Giles in Personalunion war!

Das galt zum Beispiel für alle Familienangehörigen der Giles. Den bereits erwähnten Brief an die Tochter Rosemary vom 5. September hatte er mit den Initialen P.G. und der Unterschrift "Pete" geschrieben und dabei eine Briefkastenadresse für die Weitergabe von Agentenpost angegeben.   

Ein weiterer wichtiger Informationsbaustein:

der Aufenthalt im Hampstead General Hospital unter seinem "neuen Namen".

Damit liegen zwei Indizien dafür vor, dass Otto zwischen Anfang September und dem Jahresende 1943 seine Fallschirm-Springerausbildung in der Nähe von Ringway bei Manchester absolviert hat. Dabei könnte er sich eine Verletzung zugezogen haben, die dann im Krankenhaus behandelt werden musste. 

Aus der letzten Briefseite wird deutlich, dass Otto 1943 als er den Brief schrieb, zwei Wohnsitze hatte:

durch den Hinweis auf seine Zimmerwirtin, die ihm zweimal die Post brachte, aber seine Londoner Adresse nicht kannte.

Das Zimmer außerhalb Londons scheint die offizielle Adresse gewesen zu sein, wo er unter einem definierten Tarnnamen lebte.

Die im Brief angegebene Londoner Adresse war demnach wohl eine Art geheimes Refugium. Er wird dort aber kaum unter dem Namen Otto Hess gelebt haben - auch wenn er wieder auf sein (vielleicht übertriebenes) Bekenntnis zu seiner "Signatur" hinweist.

Die Abkürzung "S.F." im letzten Satz steht höchstwahrscheinlich für "Second Front". Die Kriegsstrategie der Alliierten zielte ja darauf ab, eine "Zweite Front" in Europa aufzubauen - durch die ab 1943 bereits geplante Invasion in Nordfrankreich. Obwohl Otto zuversichtlich ist, dass er sich mit Edgar vor dem Beginn der Zweiten Front noch einmal treffen könne, scheint es nicht mehr dazu gekommen zu sein...  

Eintrag in die Militärakte:

"Transferred to Queens Own Royal West Kent allotted army number 6387034 - 16.11.43"

Warum wird Otto per 16. November 1943 dem Royal West Kent Regiment überstellt und erhält eine neue Personalnummer?

Eigentlich hätte das schon bei seiner Abordnung zum Commando-Depot im April 1942 geschehen müssen!

Die Rekruten seiner früheren Commandoeinheit 3 troop mussten gleich bei ihrer Aufnahme Tarnnamen annehmen und wurden gleichzeitig einem von vier britischen Tarnregimentern zugeordnet - darunter war auch das "Q.O.R.W.K."

Sollte in den offiziellen Aufzeichnungen einfach nur eine Tarnlegende nachgetragen worden sein - der Form halber und zu einem beliebigen Datum? Oder gibt die Eintragung einen Hinweis auf eine Mission?