Bademagd, Wenzelsbibel, Österreichische Nationalbibliothek, Wien
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Die Explosion

Der moderne Ritter sitzt am Denkertisch – aber geistig ist er gerade ein hochmittelalterlicher, völlig versteinerter Frosch. Nur Leere und Starre im Oberstübchen….

Und doch tut sich etwas in seinem selbsthypnotisch lahm gelegten Gehirn. Aus einem autonomen Zellhaufen formt sich das Bild einer lieblichen Prinzessin, einer Elfengestalt mit freizügigem Dekolleté. Sein Unterbewusstsein ist sehr darum bemüht, die holde Schöne zu einem zauberhaften Befreiungskuss zu bewegen. Schließlich muss die Denklähmung dringend aufgelöst werden.

Es gilt, den überlebensnotwendigen Geisteszustand wieder herzustellen: scharfe Aufmerksamkeit, klare Wahrnehmungen, starke Gefühle, schnelle Reaktionsfähigkeit…

Sein Innerstes befiehlt ihm, Lehensherren, edlen Frauen und denen, die von ihm abhängen, mit allen ritterlichen Tugenden zu dienen. Er steht im Lohn eines Herren, der Höchstleistungen von ihm fordert: glasklare Logik, geschliffene Argumentation, Überzeugungskraft…

Doch gleichzeitig gehören diese Tugenden ihm selbst; er ist ein freier Mann, ein denkender und schreibender Ritter, der sein Rüstzeug und seine Waffen nach eigenem Gutdünken anbieten kann.


Einerseits will er nicht abhängig sein – aber er sucht die Abhängigkeit, weil er sich Anerkennung davon verspricht: die Ehre und den Respekt, der ihm zusteht, die Würdigung seines Könnens. Doch je mehr er sich darum bemüht, desto weniger erreicht er dieses Ziel. Und er erkennt immer deutlicher, wie unfrei er eigentlich ist. Ein Knecht, der geistig minder Bemittelten Hymnen dichtet und ihnen die Steigbügel hält. Ein Getriebener, der nach Harmonie und Liebe giert. Eine Maschine im Überlebenskampf…

 

„Tatü – tata, tatü – tata“: die Sirene eines Rettungsfahrzeugs wird immer lauter. Der moderne Ritter schreckt auf. Nervosität überfällt ihn, seine Beine zucken, er möchte fliehen – doch er ist wieder wie gelähmt. In Sekundenbruchteilen erlebt er einen Schockzustand, im dem er sich einst befand.

Damals, im Heiligen Land, als er gleich neben dem Transportwagen stand, den urplötzlich mit ohrenbetäubendem Knall die Bombe zerfetzte. Als er, der Neuankömmling, in der sengenden Hitze furchtbar schwitzend, übermannt wurde von der Druckwelle. Als Splitter sirrend-nah an ihm vorbei flogen. Als er die Szenerie wie ein Zuschauer im Theater betrachtete und sich fühlte wie eingepackt in Watte – als er die Sirenen hörte…