Das Wiesenttal in der Fränkischen Schweiz war in den 1950er Jahren unser immer wieder gern besuchtes Ausflugsziel. Hier die Region um die Stempfermühle mit der Burg Gößweinstein im Hintergrund
Das Wiesenttal in der Fränkischen Schweiz war in den 1950er Jahren unser immer wieder gern besuchtes Ausflugsziel. Hier die Region um die Stempfermühle mit der Burg Gößweinstein im Hintergrund

Kleine und größere Kinderfreuden...

In den 1950er Jahren unterhielten sich die Menschen noch durch Handarbeiten, Karten- und Gesellschaftsspiele, Radiohören und das Lesen. Bücher wurden aber viel häufiger ausgeliehen als gekauft - wegen der niedrigen Löhne, die selten über 500 Mark im Monat lagen. In Bruck gab es eine private Leihbücherei und dazu kam wöchentlich der städtische Bücherbus. Der Kauf oder der Bezug einer Tageszeitung wurde schon deshalb notwendig, weil man die alten Ausgaben als Klopapier brauchte. Zu Streifen zerschnitten lagen sie dann in den noch weit verbreiteten Plumpsklos. Oft gab man die Zeitung auch von Nachbar zu Nachbar weiter. Das Abonnement einer Zeitschrift allerdings zählte zum Luxus, den sich nur wenige Haushalte leisten konnten. Die damals "Illustrierte" genannten Zeitschriften wie der Stern, die Bunte oder Quick las man stattdessen beim Friseur oder in den Wartezimmern der Ärzte. Dort lagen meist die Lesezirkel-Mietausgaben der damals noch nicht sehr bunten "Yellow Press" für Kunden und Patienten aus.

Wir Kinder sahen uns darin sowieso nur die Bilder an. Vor allem aber die gezeichneten Comic-Strip-Kurzgeschichten. Etwa die Kriminalfälle des Detektivs "Nick Knatterton" in der Bunten und die Serie "Reinhold, das Nashorn" im Stern. Dass der Reinhold-Zeichner "Loriot" später einmal sehr berühmt werden würde... wer hätte es ahnen können.

 

Viel interessanter fanden wir die kleinen bunten Heftchen, die speziell für uns gemacht waren, und die auch ich mir hin und wieder von meinem Taschengeld leistete: Sigurd, der edle Ritter; Prinz Eisenherz; Akim, der Sohn des Dschungels; Fix und Foxi und Mickey Mouse. Dass es sich dabei um minderwertige "Schundliteratur" nach der Beurteilung des Bayerischen Kultusministeriums handeln sollte, erfuhren wir erst, als Verlags-Abonnementverkäufer aus Nürnberg in der Schule mit diesem Argument für ihre doch viel wertvollere Jugendzeitschrift "Stafette" warben... Viele Titel der offiziell anerkannten Jugendliteratur habe ich ohnehin noch gelesen. Entweder bekam ich die Bücher zum Geburtstag, zu Ostern und Weihnachten geschenkt - oder ich holte sie mir aus dem Bücherbus.

 

Als Massen-Unterhaltungsmedium für "Otto Normalverdiener" fungierte das Radio. Das Fernseh-Zeitalter hatte damals gerade erst begonnen. Es gab nur klobige Schwarzweiß-Geräte mit kleinen Bildschirmen, die den Gegenwert eines Durchschnitts-Jahresgehalts gekostet haben dürften. Noch besaß kaum jemand so einen Zauberkasten. Das Elektrogeschäft Elsner an der Fürther Straße bot aber schon die ersten Modelle an. Zur Fußball-Weltmeisterschaft 1954 und bei späteren Nationalspielen lief dort ein Fernseher im Schaufenster. Dann bildeten sich große Menschentrauben auf dem Gehsteig, klatschten Beifall und jubelten.

Unser Radiogerät war ein "Loewe-Opta Planet". Nach dem Einschalten dauerte es eine Weile, bis die Röhrentechnik im Inneren warmgelaufen war. Ich sehe mich noch vor dem Apparat sitzen, die Drucktasten für UKW, MW und KW betätigen und mit dem rechten Drehknopf die Senderfrequenzen durchnudeln. Dabei leuchtete das grüne "magische Auge" und zeigte die Empfangstärke an. Neben der schon erwähnten Sabbatfeier gehörten Hörspiele wie die Krimiserie "Dicky Dick Dickens" und Musik aller Art zu unseren Favoriten. Meine Vater hörte gerne Klassische Musik, Opern und Operetten, aber auch alpenländische Volkslieder und Blasorchester-Märsche.

Die regelmäßige Übertragung des jüdischen Freitag-Gottesdiensts aus München durch den Bayerischen Rundfunk sehe ich heute mit gemischten Gefühlen. Rund zehn Jahre nach der schrecklichen Judenvernichtung wollte man damit wohl religiöse Toleranz und die Gleichberechtigung aller Konfessionen zum Ausdruck bringen. Andererseits saß der hitlersche Ungeist in den 1950er Jahren weiterhin in den Köpfen vieler Menschen. Etliche willige Erfüllungsgehilfen des diktatorisch-terroristischen, menschenverachtenden, mörderischen Unrechtsregimes saßen sogar wieder bei Gerichten und in Amtsstuben der neu geschaffenen Bundesrepublik. Es spricht ja schon Bände, dass man ehemalige Nazi-Richter und -Funktionäre weiter beschäftigte, die sich darauf berufen hatten, nur ihre Pflicht getan und ihren Eid gegenüber dem Staat erfüllt zu haben. Wie groß müssen da Karriere-Egoismus, Gewissenlosigkeit, Gefühlskälte, Opportunismus und Duckmäusertum gewesen sein... Nun waren sie also wieder in Amt und Würden, taten Dienst nach Vorschrift unter neuen Akten-Vorzeichen und genossen ihre alten Privilegien...

Wer gut versorgt war, konnte seinen Wohlstands-Status auch mit einer der gerade hochmodernen luxuriösen "Musiktruhen" im Wohnzimmer zeigen. Darin war nicht nur ein hochwertiges Radiogerät eingebaut, sondern auch ein Plattenspieler mit Plattenregal und ein Barfach, das sich samt verspiegelter Rückwand hinter einer Klapptür öffnete.

Mir genügte aber schon unser einfaches Radio mit seinem immer leicht brenzligen Elektrogeruch, der wahrscheinlich von verschmauchendem Staub auf den heißen Röhren kam. Und ich ging sowie noch lieber ins Kino in die Mehrzweckhalle neben unserer Schule als daheim Musik zu hören. Am Sonntagnachmittag liefen immer für Kinder und Jugendliche freigegebene Filme - und hin und wieder spendierten meine Eltern das Eintrittsgeld. Noch viel schöner und aufregender wurde der Kinobesuch, als wir später auch nach Erlangen fahren und dort eines der Filmtheater besuchen durften. Die hatten alle so hochtrabende Namen wie Schauburg, Atrium oder gar Collosseum. Einmal war ich in der Vorweihnachtszeit mit meiner Mutter sogar im Erlanger Markgrafentheater - zu einer Vorstellung von Hänsel und Gretel. Dort öffnete sich eine ganz neue äußerst eindrucksvolle Welt: durch die nie vorher gesehene rot-goldene pompöse Pracht des fürstlichen Rokokotheaters und die mitreißend-lebendige Märchendarstellung der Schauspieler!

 

Über eine gewisse Zeit lag bei uns daheim im Unterkasten des mit Seegras ausgepolsterten Sofas ein schwarzer Instrumentenkoffer, in dem eine Hohner-Ziehharmonika steckte. Obwohl sie für mich sehr unhandlich und schwer war, habe ich die "Quetschn" immer mal wieder ausgepackt und darauf herumprobiert. Ich versuchte Tonfolgen, lauschte den Klängen nach und übte das Zusammenspiel der Knopftastenblöcke links und rechts. Die Bässe hatten es mir besonders angetan. Das ganze Instrument schimmerte wie Perlmut - und es "atmete" beim Aufziehen und Zusammenschieben.

Irgendwann war das Akkordeon nicht mehr da. Wahrscheinlich hatte es sich mein Vater ausgeliehen, weil er am Harmonikaspiel interessiert war - und als er dann aber doch nicht dazu kam, musste er das Instrument wieder zurück geben. Seine Freizeit dürfte damals sehr knapp bemessen gewesen sein. Er besuchte Abend- und Wochenendkurse für technisches Zeichnen und Konstruktion, um sich für einen beruflichen Aufstieg zu qualifizieren. Für mich war er kaum noch vorhanden.

Ich bekam dann eine Mundharmonika, auf der ich durch ständiges Probieren doch einige Schlager und Märsche zu spielen lernte. Aber ein richtiges Lieblingsinstrument wurde die Mundharmonika nicht. Obwohl in der Schule viel gesungen wurde, kannte man damals weder musikalische Früherziehung noch Musikunterricht. Aber auch der Kauf eines Instruments und Privatunterricht waren kein Thema. Erst so im Alter um 14 entwickelte sich bei mir wieder ein stärkeres Interesse am eigenen Musizieren, ausgelöst durch die Lieder von Bob Dylan und den Beatles.

 

Verglichen mit heute war das Angebot an typischem Kinder-Naschwerk in den 1950er Jahren noch sehr überschaubar. Aber das, was damals im Tante Emma-Laden, in der Drogerie, beim Bäcker oder am Zeitungskiosk auf der Verkaufstheke stand, reichte für unsere Genuss-Vorstellungen völlig aus. Weil wir meist nur wenig Taschengeld hatten, konnte man ohnehin nicht alles haben und musste genau überlegen, welche Leckereien man kaufte. Auch wenn ein Schäufelchen voll Bonbons, aus dem großen Bauchglas eingefüllt in eine der üblichen spitz-dreieckigen Papiertüten, "nur" 10 Pfennige kostete. Oft waren es gerade die kostenlosen, schnell und einfach selbst gemachten Süßigkeiten wie eine gezuckerte oder mit Honig bestrichene Scheibe Brot, die viel besser schmeckten als alles Verlockende aus dem Laden. Und wenn ums Trinken ging, gab es ohnehin nur den Durstlöscher aus dem Wasserhahn.

 

Das "Ahoj"-Brausepulver der Firma Frigeo in den kleinen weiß-blauen Tütchen mit dem Matrosenbild drauf dürfte in den heißen Sommermonaten jener Zeit unser beliebtestes Kaufobjekt gewesen sein. Die Ahoj-Brause gab's in den Geschmacksarten Waldmeister, Himbeer und Orange. Das Pulver kippte man in ein Glas Wasser, rührte mit einem Strohhalm aus echtem Stroh um, beobachtete dabei die grüne, rote oder orange Wasserfärbung mit den schäumenden Kohlensäurebläschen und schlürfte das köstlichste Getränk auf Gottes schöner Erde dann mit Wonne in sich hinein. Bei weniger Durst wurde das Pulver einfach aus der Handfläche geschleckt. Das führte zu einem kitzelndem Prickeln und einer fantastisch gefärbten Zunge. Anders und teuerer waren die "Heinerle-Überraschungstüten". Da purzelten süße bunte Puffreiskörner und kleine Plastik-Spielsachen heraus. Zum Beispiel tolle Indianerfiguren. Wen ich mich recht erinnere, bekam man diese Wundertüten nur zu besonderen Anlässen wie auf einem Jahrmarkt oder an der Kirchweih. Und genau so war das auch mit den Kinderzigaretten. Die steckten in einer kleinen nachgeahmten Zigarettenpackung und waren natürlich nicht mit Tabak gefüllt, sondern mit Schokolade.

Meine Süßigkeits-Favoriten: Neben den einzeln eingewickelten quadratisch-dicken Storck-Karamelbonbons die Fruchtbonbons in Fruchtform: Himbeerkugeln, Zitronen- und Orangenscheiben. Dann die Lakritz-Schnecken, die man abrollte und als dicke schwarze Schur mit Süßholzgeschmack mümmelnd in sich schlotzte. Schokolade mochte ich eigentlich am liebsten. Besonders die von Cadbury oder Milka. Aber Schokolade war so teuer, dass ich immer darauf warten musste, mal eine Tafel geschenkt zu bekommen. Schokoriegel kamen damals erst langsam auf den deutschen Markt. Der erste, den ich mir schmecken lassen konnte, war ein amerikanischer "Butterfinger". Ein seltener, exklusiver Leckerbissen - so exotisch wie Orangen, Mandarinen, getrocknete Feigen und Lebkuchen, die es praktisch nur zu Weihnachten gab. Gute Schokolade, der Butterfinger und etwa auch Pralinen zählten zum Delikatessen-Luxus. Nur in der Feinkost-Abteilung im Kaufhaus oder im Süßwaren-Fachgeschäft in der Stadt zu bekommen - und entsprechend teuer.

 

Immer beliebt, gern zwischen die Zähne genommen, in der Schule aber streng verboten: Kaugummis. Die Streifenkaugummis von Wrigley's fielen schon mal als kleine Geschenke ab, wenn eine US-Militärkolonne durch den Ort fuhr. Noch mehr nach meinen Geschmack steckte in den dicken rosafarbenen Blasen-Kaugummi-Klötzchen mit den Sammelbildern in der Verpackung. Die hatten zwar den englischen Namen "Double Bubble", wurden aber nur deutsch "Duble Bubble" ausgesprochen und im Laden gekauft.

 

Am liebsten mochte ich aber doch die köstlichen Reisaufläufe meiner Mutter. Die brachte sie hin und wieder als süße Mahlzeit auf den Tisch - mal mit eingebackenen Kirschen und mal mit Apfelschnitten und Rosinen. Frisch aus dem Ofen hatten sie eine einmalig knusprige, nach Zimt duftende gebräunte Kruste. Und was übrig blieb vom Gaumenschmaus konnte man wie Kuchen auch noch kalt essen.

 

Eine andere Quelle schönster Kinderfreuden bildeten diverse Spielsachen, die neu gekauft oder schon aus Familienbesitz an uns Kinder kamen. Auf einem alten Foto habe ich entdeckt, dass ich als Kleinkind schon stolzer Besitzer eines VW-Käfer-Modellautos gewesen war. Ein anderes Foto hat sogar wieder die Erinnerung an die runde Armbanduhr geweckt, die ich schon im Alter von etwa fünf Jahren bekommen hatte. Ich musste sie immer wieder an mein Ohr halten, um zu hören, wie sie tickte und dass sie auch wirklich noch ging. Die Uhr war auch eine Art von technischem Spielzeug; denn als Fünfjähriger lebte ich natürlich nicht nach einem Zeitplan und war nur stolz und glücklich über meinen männlichen Handgelenkschmuck. Aus einem dunkel erinnerten Fuhrpark kleinerer Wiking-Modellautos sticht das Geschenk meines Paten aus Marktredwitz hervor: ein wunderbarer, großer Feuerwehr-Lkw von Schuco mit ausziehbarer Drehleiter. Dann gab es da noch ein Sammelsurium Phantasie anregender Spielfiguren aus Elastolin: Cowboys und Indianer zu Fuß und zu Pferd, ein Wildwest-Fort, das man belagern und verteidigen konnte, Turnier-Ritter mit Schild und Lanze und moderne Soldaten. Für die richtige Spielszenerie brauchte man idealerweise einen größeren Sandhaufen. Den fanden wir meistens auch irgendwo in der Nähe, wo grade gebaut und gemörtelt wurde. Mit etwas Wasser bauten wir dann die Straßen, Burgen und Landschaftselemente für den Einsatz unserer Spielzeuge und das spontan improvisierte Modell-Theater. Karl Drechsler besaß sogar noch ältere Wehrmachts-Spielsachen: Halbketten-Fahrzeuge aus Blech mit voller Mannschafts-Besatzung, Kanonen, Maschinengewehrschützen, angreifende Figuren mit Stabhandgranaten, Marschierende, Fahnenträger, Militärmusiker... Diese Figuren waren aus dem Pappmaché-artigen Werkstoff Leolin hergestellt und sehr detailgetreu bemalt. Mein ganzer Stolz: das große Flugzeugmodell des gefürchteten Sturzkampfbombers Ju 87.

 

So wie jeder "richtige" Junge bekam auch ich etwa im Alter von acht oder neun Jahren mein erstes Taschenmesser. Es war leicht gebogen, hatte nur eine Klinge und schön gemaserte Holz-Griffschalen. Damit begann die Schnitz- und Verzierungsphase meines Kinderlebens. Das Messer erschloss mir eine neue handwerklich-künstlerische Dimension mit viel Spaß schon beim Arbeiten und großer Freude, wenn wieder etwas gut gelungen war. So entstanden Holzspeere, Holzdolche, Holzschwerter und etliche verzierte Wanderstöcke aus Haselnuss-Ästen. Außerdem übte ich das so genannte Spicken: die hohe Kunst des Messerwurfs mit einem dafür eigentlich ungeeigneten Messer. Alle Buben versuchten das - und wenn man es leidlich konnte, gab's ein Wettspicken mit den anderen. Dabei musste entweder eine Holzlatte oder ein Zielkreis auf einem Brett oder auch auf weicherem Boden so getroffen werden, dass das Messer darin stecken blieb.

Harmloser, aber deshalb nicht weniger spannend ging es beim Schussern mit bunten Ton- und Glaskugeln zu. Man buddelte eine Erdmulde und rollte die Kugeln mit Schwung aus einer festgelegten Entfernung so darauf zu, dass sie möglichst in der Mulde landeten. Die Kugeln, die davor liegen blieben, musste man mit einer größeren Glaskugel treffen und weiter in die Mulde befördern. Liegen gebliebene Glaskugeln wurden dann wiederum mit Glaskugeln "abgeschossen". Das klackende Geräusch, das dabei entstand, nannte man "gagsen" - und die Glaskugeln hießen "Gagser". Wer die meisten Kugeln in die Mulde befördert hatte, durfte sich auch die Schusser der anderen rausnehmen und sein Schussersäckchen weiter auffüllen.

 

Ich dürfte höchstens fünf Jahre alt gewesen sein, als ich zu Weihnachten schon eine Märklin-Modelleisenbahn bekam. Das heißt: eigentlich bekam sie mein Vater. Und zwar bereits einige Zeit vor Weihnachten. Dieser Zeitvorlauf war notwendig, weil Papi wohl uns beiden eine Freude mit dem Aufbau einer richtigen Landschafts-Bahnanlage für die Spurweite H0 machen wollte. Das Werkeln bis Weihnachten stillte natürlich in erster Linie seinen Spieltrieb. Meiner konnte sich noch nicht so recht entfalten, weil die Schienen und Fahrzeuge im Modell-Maßstab 1:87 für mich damals noch zu diffizil und das elektrische Fahren mit dem Trafo zu kompliziert waren. Nichtsdestotrotz: Ich war abends und an den Wochenenden begeistert dabei, wenn an der Anlage gebaut wurde, und durfte bei einfacheren Arbeiten auch mithelfen. Auf einer Sperrholzplatte entstand ein ovaler Schienenkreis mit Abstellgleis. Zum Nachahmen des echten Bahnbetriebs gehörten auch Weichen, ein Signal, eine beschrankter Bahnübergang und das Stellpult. Die elektrische Verkabelung wurde durch Löcher unter die Platte gezogen, dort befestigt und zu Stellpult und Trafo geführt. Das Zugmaterial für den Anfang war eine kleine Dampflok mit einigen Güterwagen. Natürlich ließen wir die Garnituren zwischendurch immer mal wieder probeweise fahren, wobei mich der schwarze, elektrisch-brenzlig riechenden Trafo besonders faszinierte.

 

Die hintere Plattenseite sollte einen Berg bekommen und einen Bahntunnel. Also modellierte mein Vater mit Holzklötzen und in Gips getränkten alten Betttüchern eine Art Voralpenlandschaft. Ich habe immer noch den charakteristischen Geruch des Kaltleims und des Landschafts-Streumaterials in der Nase, wodurch das Gelände farbige Struktur bekam: Blumenwiese, Felsflächen, Schotter, Asphalt und Sand. Es folgten Nadel- und Laubbäume, Büsche, Hecken, Zäune und verschiedenste Gebäude: Bahnhof und Güterschuppen im alpenländischen Stil, ein Bahnwärterhäuschen, Bauernhof, Feldscheunen und eine Bergkapelle, die mein Vater komplett selbst bastelte. Die übrigen Häuser entstanden aus Bausatz-Teilen, die man zusammenkleben musste. Der Clou dabei: alle Gebäude konnten mit Taschenlampenbirnchen im Inneren und über ein Schaltpult beleuchtet werden.

In den Folgejahren wurde die Anlage zu Weihnachten immer wieder aufgestellt und auch mit neuen Fahrzeugen ergänzt. Damit zu spielen und in dieser einzigartigen Modellwelt zu versinken war dann meine liebste Beschäftigung .

 

Bei schönem Wetter konnte ich meinem kindlichen Bewegungsdrang mit einem Tretroller freien Lauf lassen. Fahrtwind und Geschwindigkeit bei Bergabfahrten durchs Dorf ließen ein erhabenes Hochgefühl und pure Lebensfreude aufkommen. Der Roller war zwar gebraucht, aber tipptopp in Schuss und technisch schon auf dem höchs-ten Stand: Stahlrohr-Konstruktion, Reifen zum Aufpumpen wie beim Auto, breites Trittbrett mit Bremspedal hinten... Erst so im Alter von neun Jahren wurde ich dann stolzer Besitzer eines neuen Jugend-Fahrrads. Der Rahmen war grün-metallisch lackiert, vorne hatte es eine Art Wappen und am Lenker eine Dreigang-Schaltung von Fichtel und Sachs. Ich verliebte mich sofort in all seine technischen Finessen und konnte gar nicht genug davon bekommen, es ständig neu Probe zu fahren, zu ölen und zu putzen, bis alles nur so blinkte.

Rollschuhe mochte ich nicht, die waren nur was für Mädchen. Auch das Springseil gehörte für mich in die Kategorie "Weiberkram". Schon deshalb, weil ich die Hüpftechnik nie ganz auf die Reihe bekam und meine Füße oft im Seil verhedderte.

 

Neben den obligatorischen Sportrequisiten Fußball und Federball-Schläger steckte in meinem "Matchsack" eine Art starrer Hartplastiktüte, aus der man per Feder-Drücktaste einen Tischtennisball möglichst hoch hinaus springen ließ, um ihn dann wieder "einzutüten". Der Matchsack war damals große Mode: ein Zwischending aus großem runden Seesack und kleinem Turnbeutel. Er hatte Kordelträger zum Umhängen und eine Kordel oben zum Zusammenziehen. Das Vorbild stammte wahrscheinlich aus der englischen Tennisszene.

 

Die größte und reinste Freude empfand ich immer, wenn meine sonst sehr beschäftigten Eltern ein wenig Zeit mit mir verbrachten und ich sie ganz für mich alleine hatte. Etwa bei Gesellschafts-, Geschicklichkeits- und Kartenspielen im Winter oder bei schlechtem Wetter. Dabei lernte ich sogar das Erwachsenen-Kartenspiel "66". Ich spielte es liebend gern, weil mir die herrlich altertümlichen Kartenbilder des bayerischen Schafkopf-Tarock-Blatts so sehr gefielen: Ober und Unter, König, Ass und Sau, Schellen, Blatt, Eichel und Herz. Zum Beispiel trug der Ober Landsknechtsge-wandung und schwang ein Krummschwert, die Sau war ein Wildschwein, auf dessen Rücken sich ein Hund festgekrallt hatte, die Eichel-Ass ein nacktes Knäblein auf einem Fass, das einen Bierkrug schwingt...

 

Als absolute Höhepunkte meines Kinderlebens aber empfand ich die Ausflüge mit den Eltern in unterschiedlichstes "Neuland". Da gab es zum Beispiel die jährliche Entdecker-Safari in den Tiergarten nach Nürnberg. Schon dorthin zu kommen, erschien mir wie eine kleine Weltreise. Man lief zum Bahnhof, bestieg das technische Wunderwerk eines Zugs mit seinem schier endlosen Waggongespann, flog ratternd durch Felder, an fremden Dörfern vorbei, schlich dann wieder sachte klappernd durch Vororte, vorbei an Hütten- und Gärtchenreihen entlang des Bahndamms, näherte sich der Silhouette der Großstadt und ihrer thronenden Burg, passierte noch etliche übrig gebliebene Kriegsruinen und bombastisch erscheinende Gebäudekomplexe mit grünlichen Kuppeldächern - und wurde von einer Menschenmenge durch eine ungeheuer große Bahnhofshalle mitten hinein in die Großstadt geschoben. Hier, auf dem Verkehrs-Drehkreuz vor dem Bahnhof, kam man aus dem Staunen gar nicht mehr heraus: über das Durcheinander von hupenden, bläuchliche Schwaden ausstoßenden Autokolonnen, schubweise ausschwärmende Fußgängergruppen an den Verkehrsampeln und die sich durch alles metallisch-quietschend durchschlängelnden Straßenbahnzüge. Mit diesen antiquierten Straßenbahnfahrzeugen - sie hatten hinten noch eine offene, von einem Geländer umgebenen Plattform - rumpelten wir unter rasselnden Klingelsignalen dann noch eine ganze Weile weiter durch die Straßenschluchten der Stadt bis zum Tiergarten.

Beim ersten Besuch war ich wohl noch sehr klein. Aber er blieb mir nicht nur durch die beißenden Gerüche im Raubtierhaus in Erinnerung. Gorilla und Orang Utan wirkten selbst hinter den dicken Gittern noch ziemlich Furcht erregend. Und auch die urtierartig-riesenhaften Elefanten flößten ordentlich Respekt ein, wenn sie ihre Rüssel über den Graben des Freigeheges hinweg ausstreckten und die Besucher um Futter anbettelten. Dagegen war die Fahrt mit der pfeifenden Kinder-Kleinbahn durch das weitläufige Gelände ein herrlicher, unbeschwerter Spaß. Meine Eltern vergaßen die erste "Tiergarten-Safari" deswegen nicht, weil ich mittendrin für eine peinliche Situation sorgte durch den spontanen lautstarken Ausruf in derbstem Dialekt: "Mami, Mami, des Zebra hod gschissn!"

 

Zu unseren Ausflügen an Wochenenden oder in den Ferien gehörten auch mal längere Fahrten mit dem Fahrrad - wie etwa zum Hetzleser Berg. Und noch schöner: mit dem Zug ganz hinein in die Fränkische Schweiz! Die letzte Strecke durch das Tal der Wiesent bis nach Beringersmühle fuhren wir mit einer Dampflok- und Wagen-Kombination, die fast so aussah wie die Fahrzeuge unserer Modellbahnanlage. Ich konnte mich gar nicht satt sehen an all den Überraschungen, die da entlang des Wegs zwischen der Rauchfahne der Lok auftauchten: dunkle Waldberge wie aus dem Märchen; weiße, bizarre Kalkfelstürme mit Kreuzen und Flaggen obendrauf; die imposante Burgruine Neideck als intuitiv erspürtes Relikt aus alter Zeit; das sich durch Blumenwiesen windende Flüsschen, auf dem Kanufahrer herumpaddelten; die hübschen, harmonisch in die Landschaft passenden Bahnhofsgebäude... Dann wanderten wir am Fluss entlang, in dem Regenbogenforellen gegen die Strömung schwammen, an einem Sägewerk vorbei und hinauf in das schummerige Halblicht des Hangwalds bis zu einem schrundigen Aussichtsfelsen in hellem Sonnenlicht, in den sich mit langen Wurzeln harzwürzig duftende Krüppelkiefern eingenistet hatten. Brotzeit und Getränke hatten wir in unseren Rücksäcken dabei. Vor der Heimfahrt gönnten wir uns noch ein köstlich-sahniges Eis im Wirtsgarten der Beringersmühle.

 

Urlaubsreisen im heutigen Sinn kannte man damals noch kaum. Viele Normalverdiener konnten es sich bis weit in die 1950er Jahre hinein kaum leisten, weiter weg zu fahren, in Gasthäusern essen zu gehen und die so genannten Fremdenzimmer zu bezahlen. So weit ich mich entsinne, waren meine Eltern während meiner Kindheit nur einmal für eine Woche auf Urlaub: in Ramsau im Berchtesgadener Land. Meine Mutter durfte ein Jahr danach noch einmal eine Urlaubswoche in einem Ferienhaus ihres Arbeitgebers bei Berchtesgaden verbringen - als soziale Leistung der Siemens-Reiniger-Werke in Erlangen, wo sie als Trafo-Wicklerin arbeitete. Weder mein Vater noch meine Mutter haben jemals den Führerschein erworben und folglich auch nie ein Motorrad oder ein Auto besessen. Ihre späteren Urlaubsreisen nach Österreich machten sie immer mit einem Omnibusunternehmen.

 

Zu meiner Kleinkinderzeit wurden wir hin und wieder von der Cousine meiner Mutter zu Auto-Ausflugsfahrten ins weitere Umland eingeladen. Ihr damaliger Freund und späterer Mann Eberhard war im Außendienst tätig und deswegen immer gut motorisiert. Mit seinem ersten Geschäftswagen, einem VW-Transporter-Kastenwagen mit dem Schriftzug "Sanella" außen auf den Fahrzeugwänden, fuhren wir mal zum Campingplatz an den Kreuzweihern bei Kalchreuth - hinten im fensterlosen, finsteren Laderaum auf Camping-Klappstühlen sitzend. Als Privatwagen besaß Eberhard später einen supermodernen Renault-Dauphin, in dem ich mal ganz alleine mitfahren durfte. Extra für mich preschte er da durch eine Straßen-Unterführung, schaltete im Tunnel die Zündung aus und dann gleich wieder ein, um mir mit dem nun folgenden lauten Knall der Fehlzündung plus Tunnel-Hall-Verstärkung so richtig zu imponieren...

 

An etlichen Wochenenden im Jahresablauf besuchten wir entweder meine Großmutter mütterlicherseits in Bruck, deren Mann noch in den letzten Kriegsmonaten 1945 gefallen war, oder meine Großeltern in Erlangen. Dabei war es ganz selbstverständlich, dass bei akzeptablem Wetter auch die lange Wegstrecke nach Erlangen zu Fuß zurück gelegt wurde. Auf diese Besuche freute ich mich immer - schon wegen der kleinen Geschenke, die dabei für mich absprangen.

 

Mindestens einmal jährlich kam mein Pate Fritz Schiener, der Cousin meines Vaters, mit seiner Frau zu Besuch. Ihre Tochter Gabi war ein Jahr jünger als ich. Hin und wieder besuchten auch wir unsere Verwandten in Marktredwitz. Dort gab's immer viel deftige Wurstwaren zu essen und abenteuerliche Wanderungen in die Felsenwelt der Luisenburg im Fichtelgebirge. Die Mutter von Fritz Schiener war die Schwester meiner Großmutter. Ich mochte meinen Paten sehr. Nicht nur deshalb, weil er immer ein ganz tolles Geschenk für mich mitbrachte. Die Schieners waren schon früh motorisiert. Mein Pate fuhr erst Motorrad, dann einen von NSU gebauten Fiat 600 und schließlich immer wieder neue, größere und stärkere Modelle der Marke Ford.

 

In Marktredwitz wohnten auch noch drei Schwestern meines Großvaters und die Cousine Lotte meines Vaters. Bei jeder Reise nach Marktredwitz mussten alle der Reihe nach aufgesucht werden, weil sie sonst beleidigt gewesen wären. Überall wurden prall bestückte Wurstplatten aufgetischt - und wenn sie nicht ruckzuck abgeräumt waren, folgte prompt der Kommentar in reinstem Oberfränkisch-Oberpfälzisch: "Esst's no, esst's no - Ihr esst's ja goar niad!" Neben dem Aufenthalt bei meinem Paten gefiel es mir bei Tante Lotte und ihrem Mann, dem "Bahnerer" Heinz Schaffranek, am besten. Die hatten zwei Söhne: Harald, der etwas älter war als ich, und Jürgen, ein Jahr jünger.

 

Als mein Vater vorübergehend etwas mehr Freizeit hatte, begann er mit der Ölmalerei und kopierte Gemälde nach Postkarten-Vorlagen. Ich roch gerne an den Farbentuben und liebte den eigentümlichen Ölfarben- und Terpentingeruch, der durch die Wohnung zog, wenn mein Vater an seiner Staffelei stand. Daneben hatte er mit dem Judo-Sport begonnen und ging einmal wöchentlich abends zum Training nach Erlangen. In der Judogruppe trainierte auch sein Schwager Erwin Bitter, der wohl wegen seiner dunklen Hauttönung und einer irgendwie "indo-germanischen Erscheinung" den Spitznamen "Ghandi" trug. Ich mochte den weißen Sportdress meines Vaters mit dem Bindegürtel. Und wenn wir spielerisch miteinander rauften, zeigte er mir Tricks aus dem Judo wie beispielsweise die Beinsichel und den Schulterwurf.