Die Kriegskrüppel

Ich kam 1955 in die Schule und hatte in der Folge mit den Lehrern K. und T. ausgesprochen negative Erfahrungen. Dabei handelte es sich um ehemalige Wehrmachtssoldaten und typische Kriegskrüppel... Auch wenn der Begriff „Krüppel“ inzwischen ungebräuchlich und als diskriminierend verpönt ist: im Vergleich mit politisch korrekteren Ausdrücken wie „Opfer„ oder „Behinderte“ halte ich ihn doch für den einzig wirklich zutreffenden. Keine andere Vokabel drückt auch nur annähernd die ungeschminkte Wahrheit der sichtbaren und spürbaren Kriegsfolgen aus, den Härtegrad der offenkundigen Deformationen an Leib, Geist und Seele…

Mein Peiniger K. steht mit seinem Schicksal für die Soldaten der Wehrmacht, die schwere Verwundungen erlitten hatten und danach ihr Leben lang gezeichnet blieben. Doch den Krieg und sein eigenes Los erwähnte K. mit keinem Wort!

Peiniger T. gehört zur Gruppe derer, denen man keine Verletzungen ansehen konnte, die der Krieg aber dennoch schwer beschädigt hatte.

Der so genannte Spätheimkehrer T kam erst 1954 durch Adenauers Verhandlungen mit Chrustschow aus russischer Kriegsgefangenschaft frei. Sein Los war Schwerstarbeit unter menschenverachtenden Bedingungen in einem Bergwerk im Ural gewesen. Der ehemalige Corpstudent und Offizier streute hin und wieder eine Episode vom Krieg oder vom Bergwerk in den Unterricht ein…

 

K. wurde im fünften Schuljahr mein Klassenlehrer. Wahrscheinlich war es ein Granatsplitter gewesen, der seine schweren Entstellungen im Gesicht verursacht hatte. Wahrscheinlich hatten die Chirurgen im Lazarett einen Schnaps darauf getrunken, dass es ihnen gelungen war, wenigstens die Funktionen seiner Gesichtsorgane zu erhalten. Aber wahrscheinlich wünschte K. sich selbst, er hätte seine Verwundung nicht überlebt…

Sein Anblick, seine ständig spürbare Verbitterung und seine Wutausbrüche gegenüber uns Schülern wirkten Angst einflössend und abstoßend zugleich. Auf mich schien er es besonders abgesehen zu haben. Zu Beginn des Schuljahres musste ich in der ersten Reihe sitzen, wo ich ihm besonders nahe und ausgeliefert war. Sein Mund hatte keine richtigen Lippen mehr, bestand nur noch aus zwei knorpeligen Strichen, Spucke sprühte heraus und lief das Kinn hinunter, wenn er lauter sprach und wütend wurde. Er konnte ja nur noch verzerrt und nuschelig artikulieren, was seinen unterschwellig stets vorhandenen Zorn immer wieder anheizte. Seine kaum noch vorhandene Nase und all die anderen Narben im Gesicht trugen dann sicher noch ihren Teil dazu bei. Tragisch für mich, dass er mich mehr und mehr zu seinem bevorzugten Prügelknaben machte. Hatte es im Pausenhof eine Rangelei gegeben, und er erfuhr davon, dann war ich meist derjenige, den er sich „zur Abschreckung“ für alle andern Rabauken in der Klasse vorknöpfte. Dabei zog er mich erst an einem Ohr über den Schultisch und versohlte mir dann mit einem Bambusstock den Hintern. Anschließend wurde ich für eine Weile dazu verdonnert, in einer Ecke des Klassenzimmers oder vor der Tür zu stehen. Nach einigen Monaten musste ich den zugewiesenen Schnellzugriffsitz in der vordersten Reihe räumen und wurde auf einen Einzelplatz in die hinterste Reihe verbannt. Offenbar war ihm nun doch die Provokation zu groß, die meine ständige Präsenz in seiner unmittelbaren Nähe auf ihn ausübte. Die Außenseiter-Ecke ganz hinten hatte für mich jedoch den Nachteil, dass ich seinen Zorn nun öfter durch so genanntes Schwätzen weckte. Da kam er dann mit wutverzerrt noch mehr entstelltem Gesicht und bespeichelten Mundwinkeln extra zu mir gelaufen. Dann hieß es: „Aufstehen, Hände ausstrecken, Handflächen nach oben!“ In Sekundenbruchteilen drosch sein Bambusröhrchen mehrmals über die Handflächen, was einen höllisch brennenden Schmerz verursachte…

 

Beide Lehrer kamen mir deshalb in die Quere, weil ich wegen meiner Schwächen in Rechnen mit den Noten 3 und 4 nicht zum Gymnasium gehen durfte. Weil ich in allen anderen Fächern aber immer nur gute Noten hatte, wollte man mir dann doch den Realschulabschluss ermöglichen. Allerdings war dieses Ziel in Erlangen damals nur unter erschwerten Bedingungen erreichbar. Es gab nämlich noch gar keine Realschule. Stattdessen versuchten die Volksschulen mit eigenen Mitteln und so genannten Aufbauzügen, den Mangel auszugleichen. Für uns Schüler bedeutete das über volle zwei Jahre eine immense Doppelbelastung. An zwei Tagen unter der Woche hatten wir neben dem normalen Volksschulunterricht nachmittags Zusatzstunden und zusätzlich am Samstagvormittag. Von Freizeit konnte da keine Rede mehr sein. Erst nach dem Abschluss der Volksschule erhielten wir Realschul-Vollzeitunterricht für weitere zwei Jahre.

Lehrer K. machte auch gegenüber der Klasse kein Hehl daraus, dass ich im Rechnen in seinen Augen ein Versager war. Seltsam ist nur, dass er mein Betragen und meinen Fleiß in den Zeugnissen gut bewertete, obwohl er ja eine regelrechte Strafmanie an mir austobte. Dabei tat er aber nichts Verbotenes, denn die Prügelstrafe gab es damals noch allenthalben an den Schulen. Wir bekamen sogar noch in der achten Klasse mit 14 Jahren stramme Rohrstock-Hiebe auf den Hintern.

Die in den Schulzeugnissen damals noch vermerkten "schuldlosen" Unterrichts-Fehlzeiten zeigen, dass ich in der zweiten Hälfte des vierten Schuljahres und auch im fünften Schuljahr länger krank gewesen war und deshalb wohl den Anschluss in meinem Problemfach verloren hatte...

 

Im Realschulunterricht begegnete mir dann T. als Fachlehrer in Mathematik und Physik.

Er war ein Zyniker und Rhetoriker, dabei eigentlich nicht unsympathisch. Die Degennarbe auf der Wange aus der Zeit der Studentenverbindung verlieh ihm einen leicht überheblichen und draufgängerischen Zug. Ein Karikaturist hätte ihn als Prototyp des drahtigen, zackigen, kaiserlich-preußischen Stabsoffiziers gezeichnet.

Dieses Persönlichkeitsmerkmal mit den unweigerlichen Zugaben Vaterlandsliebe, Treueschwur und Offiziersehre war aber nur eine Seite seiner Seele. Darüber hatten sich nach Hitlers Machtübernahme Führerkult, Blut-und-Boden-Philosophie und Vorherrschaftsansprüche des nationalsozialistischen Ideologiegebräus als Karrierechance gelagert. Natürlich war er freiwillig in die Wehrmacht eingetreten. Als Offiziersanwärter. Und um seine Pflicht für Führer, Volk und Vaterland zu tun: gegen die Schande von Versailles und die Verschwörernationen rings um das Vaterland.

Nach seinen Erzählungen hat er lange an den gerechtfertigten Krieg und an die Überlegenheit alles Deutschen geglaubt. An das bessere Menschen- und Vernichtungsmaterial. Zweifel am Führer und dessen Entscheidungen, an der Kompetenz des OKW oder Moralfragen wurden durch Befehls- und Sachzwänge, Kameraderie und Durchhalteparolen verdrängt.

Als er in russische Gefangenschaft geriet, scheint das auf Lügen gebaute wackelige Kartenhaus noch nicht ganz eingestürzt zu sein. Da gab es schließlich noch ein Art Ordnung, an die man sich halten konnte: den Lagerrat und den Lagerältesten der gefangenen Soldaten.

Erst die Brutalität der Zwangsarbeit im Bergwerk und der nackte Überlebenstrieb haben sein Weltbild ins Wanken gebracht. Hier war die Hierarchie komplett auf den Kopf gestellt. Wer vorher Befehle erteilt hatte, musste nun selbst die unsinnigsten, unmenschlichsten Dinge tun und ertragen. Widerspruch und Widerstand jeglicher Art beantworteten die russischen Bewacher mit roher Gewalt und härteste Strafen. Zu den subtileren Methoden gehörten gekürzte oder ganz gestrichene Essensrationen. Im Gegensatz dazu konnte man sogar Sonderzuteilungen erhalten: wenn man sich als geläuterter Nazi und frisch überzeugter Kommunist ausgab…

Für T. kam diese Strategie freilich nicht in Frage. Er ertrug lieber die Leiden und hielt sich an denen schadlos, die noch schwächer waren als er und ihm intellektuell unterlegen. Hier dürfte sich sein ätzender Wortwitz, sein verachtender Zynismus ausgebildet haben. Die klammheimliche Freude daran, andere bloßzustellen und ganz dumm aussehen zu lassen. Eine instinkthafte, lüsterne Rachementalität, die er äußerst subtil und kunstfertig zelebrierte…

...für mich allerdings äußerst unangenehm und beschämend, wenn ich vor der Klasse an der Tafel eine Gleichung lösen sollte - und dann wieder mal mein auf Null geschaltetes, lahm gelegtes Gehirn jeglichen logischen Gedanken verhinderte.